Geschichte der Trasse: Die Eisenbahn in Sprockhövel

Als 1884 der erste Zug am Bahnhof in Sprockhövel hielt, waren viele andere Bahnstrecken schon fertig gebaut. Und die Strecke nach Silschede war noch nicht einmal begonnen worden. Warum aber kam die Eisenbahn so spät in die Stadt und warum war nach rund 100 Jahren die Ära schon wieder vorbei? Die Geschichte der Bahn beginnt schon 1873. Und manche Eisenbahn-Pioniere der Region waren ihrer Zeit wohl zu weit voraus.

Blick zurück in die Anfänge der Eisenbahn

Ein Essay der früheren Stadtarchivarin Karin Hockamp gibt einen spannenden Einblick in die Geschichte der Eisenbahn in Sprockhövel und dem heutigen Stadtteil Haßlinghausen. Sie hat uns uns den Text zur Verfügung gestellt, damit wir ihn allen Interessierten zur Verfügung stellen können. Die Eröffnung des Rad- und Fußweges zwischen Schee und Silschede hatte Hockamp 2003 zum Anlass genommen, den Blick in die Anfänge der Bahn zu werfen:

Vom Dampfross zum Drahtesel

Leicht gemacht hat man es den Haßlinghausern nicht gerade, eine Eisenbahn durch ihre Gemeinde zu führen. Der Zug der Zeit schien im wahrsten Sinne des Wortes an der ländlichen Gemeinde vorüberzugehen. Dabei hatte das Zeitalter der Industrialisierung im Amt Haßlinghausen geradezu sensationell gestartet: Die chemische Fabrik Einergraben, heute auf Wuppertaler Stadtgebiet, war eine der größten ihrer Art in Westfalen und der Hochofen, der 1856 nahe der alten Kohlenstraße angeblasen wurde, galt als der modernste auf dem europäischen Kontinent. Deren Anschlüsse an die Bergisch-Märkische Eisenbahn in Rittershausen/Oberbarmen und Gevelsberg waren zwar einige Kilometer entfernt, aber über befestigte Straßen gut zu erreichen.

Mit der explosionsartigen Industrialisierung des Ruhrgebietes, der Gründungswelle von Zechen und Hüttenwerken kamen auch die Eisenbahnen ins Revier. Sie waren sowohl Voraussetzungen als auch Motor einer Entwicklung, die das ländliche Deutschland so intensiv wie nie zuvor verändern sollte.

Eisenbahnpionier Harkort

Als Eisenbahnpionier ersten Ranges betätigte sich der Unternehmer und Politiker Friedrich Harkort, der bereits 1829 eine SchmalspurSchienenbahn mit Pferdebetrieb von der Zeche Trappe in Silschede nach Harkorten (heute Hagen) baute.

Zunächst war das Streckennetz der Eisenbahnen im Rheinisch-Westfälischen Raum weitmaschig und unzusammenhängend. Zahlreiche als Aktiengesellschaften geführte Eisenbahngesellschaften schufen in der Boomphase der 1850er Jahre ein sich verdichtendes Schienennetz. Der größte Ausbau erfolgte in den 1860er und 70er Jahren.

Mangelndes Kapital – fehlende Unterstützung

Für das Hügelland zwischen Ruhr und Wupper wurden recht früh verschiedene Eisenbahnprojekte als Verbindung zwischen den Kohlegruben an und südlich der Ruhr zu den Industriebetrieben an der Wupper geplant, so 1826 eine Pferdebahn von Nierenhof über Herzkamp und Horath nach Elberfeld. Die ab 1830 gebaute Prinz-Wilhelm-Bahn von Steele durch das Deilbachtal über Nierenhof nach Vohwinkel berührte das heute Sprockhöveler Stadtgebiet nicht.

1830/32 vermaß der „Königliche Bauconducteur“ Pickel aus Düsseldorf im Auftrage des Berliner Innenministeriums mehrere Strecken in Nord-Süd-Richtung von der Ruhr nach Barmen und Elberfeld, u.a. von Kemnade über Sprockhövel und Gennebreck, von Hardenstein über Hiddinghausen, Haßlinghausen und Flanhardt. 1865 gründeten oberbergische und märkische Unternehmer, darunter der Sprockhöveler Bergwerksdirektor Ferdinand Sack, die Siegburg-Wittener-Eisenbahngesellschaft, die auch Haßlinghauser Gebiet tangieren sollte. All diese Projekte scheiterten an mangelndem Kapital und /oder an fehlender staatlicher Unterstützung.

11 Jahre bis zur Fertigstellung

Erst 1884 rollte auf der Strecke Wichlinghausen – Hattingen die erste Eisenbahn durch das heutige Sprockhöveler Stadtgebiet, die vor allem dem (Kohlen-)Transport von der Ruhr in das Wuppertal und den Bergischen Raum diente. Zwischen der Konzessionierung und Fertigstellung der Strecke lagen elf Jahre: Das Gelände war schwierig und erforderte hohe Investitionen. Erbauerin war die Rheinische Eisenbahngesellschaft in Köln, die 1886 verstaatlicht wurde. Die Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften erfolgte in Preußen ab 1879 aus überwiegend militärpolitischen Interessen. Sie diente der Konsolidierung des Eisenbahnwesens, das sich damit von den Profitinteressen der einzelnen Gesellschaften löste und nun die langfristigen Interessen an einem übersichtlichen Transportwesen verfolgen konnte.

Bahn soll Lawine des Elends stoppen

Die Haßlinghauser Gemeindevertreter unter ihrem Vorsteher August Göbelsmann aus Gerninghausen und der Amtmann Wilhelm Becker hatten seit 1874 immer wieder eine Eisenbahn durch ihre Gemeinde gefordert, zum Wohle der Betriebe und der Arbeitsplätze. 1875 legte die Dortmunder Union auf Grund einer Überproduktionskrise zahlreiche ihrer Hüttenwerke, darunter auch die Haßlinghauser Hütte, still und löste eine Lawine des Elends aus: Nicht nur die 180 Hüttenarbeiter verloren von heute auf morgen ihre Arbeit, auch die Lieferanten der Hütte, die Steinkohlen- und Eisensteinzechen erlitten drastische Umsatzeinbrüche und entließen Arbeiter.

In den folgenden Jahren verließen an die 700 Menschen – ein Fünftel der Einwohnerschaft – die Gemeinde Haßlinghausen, die ihnen keine Existenzgrundlage mehr bot. Die überaus prekäre wirtschaftliche Lage wird in zahlreichen Bittgesuchen an Minister, Abgeordnete und Landtag deutlich. Der fehlende Eisenbahnanschluss bedeutete relativ hohe Transportkosten durch den „Landabsatz“ mit Fuhrwerken und machte für die Zechen den Übergang zum Tiefbau unrentabel. Unterhalb der Erbstollensohle reichten die Kohlenvorräte, so die Argumentation, noch für 120 Jahre bei einer täglichen Förderung von 20 000 Zentnern.

Vor Eröffnung der Bahnlinie Wichlinghausen-Hattingen erging 1883 eine erneute Eingabe an den Innenminister zur Vorlage an den Landtag: „Nur durch die baldigste Durchführung dieser Eisenbahn kann der hier noch immer darniederliegenden Industrie wieder aufgeholfen werden.“ (Amtmann Becker an den Landrat). Ein Jahr später schrieb er: “ … wird wieder eine Anzahl Arbeiterfamilien den hiesigen Bezirk verlassen und anderwärts lohnendere Beschäftigung, meistens im Ruhrkohlengebiet, antreten.“ Und die hiesigen Arbeiter – meist „minderwertige“ Arbeitskräfte oder „an die Scholle gebundene Familienväter“ – nähmen täglich 3 bis 4 Stunden Fußweg in Kauf, um für einen kärglichen Lohn in Barmer und Schwelmer Fabriken zu arbeiten. 

„Wenn man im Vergleich zu diesen traurigen Erscheinungen bedenkt, welch enormer Reichtum zu einer großartigen Industrie hier noch in der Erde steckt, dessen Hebung und Verarbeitung Tausenden von fleißigen Arbeitern Beschäftigung und Nahrung verschaffen könnte, so ist es kaum begreiflich, wie her nicht schon längst durch eine Eisenbahn, die Wandel schaffen kann, geholfen.“

1885: In den vier Haßlinghauser Steinkohlenbergwerken war der Betrieb flau, der Absatz fehlte, die Landfracht war zu teuer und nur halb so viele Arbeiter wie früher waren beschäftigt. Die Hütte, das stand nun wohl fest, würde nie wieder in Betrieb genommen. Die Steinbruchbetriebe konnten mit den an der Bahn liegenden Werkstätten nicht konkurrieren. Auch der Kalksteinbruch mit Kalkbrennerei litten unter dem geringen Absatz, das Handwerk unter der Ungunst der Verhältnisse. Nur die neun Brennereien im Amtsbezirk verzeichnen „halb guten Absatz“.

Baugenehmigung unter Auflagen

Im März 1885 genehmigte der Staat endlich den Bau der 9160 m langen Bahnstrecke vom Bahnhof Schee bis zur Zeche Trappe nach Silschede (heute ein Ortsteil von Gevelsberg). Trappe gehörte zu den größten Anlagen im südlichen Ruhrgebiet. Als erste Zeche südlich der Ruhr bekam sie 1822 eine Dampfmaschine. Über die oben erwähnte Pferdebahn (ab 1876 mit Lokomotivbetrieb) lieferte sie ihre Kohlen in das Ennepetal und zum Hasper Hüttenwerk.

Die Genehmigung des Eisenbahnbaues durch die Gemeinden Gennebreck, Haßlinghausen, Hiddinghausen I und Silschede war mit der Auflage verbunden, dass die benötigten Grundstücke von den betroffenen Gemeinden kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Vor allem für die verarmte Gemeinde Haßlinghausen war dieser Grunderwerb, der weit über 200.000 Mark kosten sollte, ein ungeheuerer Kraftakt. Im Oktober 1887 hatte der neue Amtmann Leesemann sein Amt angetreten und in dieser Angelegenheit sicherlich seine Feuerprobe bestanden. Längst nicht alle Grundeigentümer wollten ihr Land für den angebotenen Preis abgeben, manche überhaupt nicht, so dass einige Enteignungen verfügt wurden.

Eine dicke Akte „Eisenbahnangelegenheiten – Enteignung von Grundeigentum“ im Stadtarchiv Sprockhövel zeugt von dem hohen Verwaltungsaufwand lange vor Baubeginn. Zuzüglich bezuschussten die anliegenden Zechen den Eisenbahnbau mit einer Summe von 100.000 Mark. Dies waren die Zeche Deutschland, gebildet 1871 aus den Gruben Kaninchen, Leveringsbank, Nachtigall und Neuglück im Bereich Hiddinghausen/Rennebaum und die Zeche Stock und Scherenberg mit seinem Hauptförderschacht Beust, an der heutigen Zechenstraße gelegen. Sämtliche Anlagen waren im Besitz von Elberfelder Unternehmern, die im Sprockhöveler Raum eine nahegelegene Energiebasis für ihre Produktion erworben hatten.

Feierlich Eröffnung mit Festmahl

Im Frühjahr 1887 wurde endlich mit dem Bau begonnen. 90 bis 100 Arbeiter, darunter viele Einheimische, benötigten zum Bau der 9160 Meter lange Strecke 2,5 Jahre. Am 1. November 1889 wurde die Strecke eröffnet. Die Bergwerksbesitzer, die den meisten Grund zum Jubeln hatten, feierten die Eröffnung mit einem Festmahl im Lokal der Witwe Aufermann am Beermannshaus und brachten, wie die Schwelmer Zeitung berichtete, „Seiner Majestät, dem deutschen Kaiser, dem Staatsminister von Maybach und anderen mehrere Hochs aus.“

Anschluss ans Wirtschaftswachstum

Nun leiteten die Zechen den Übergang zum Tiefbau ein. Direkt hinter den Gleisen begann die Gewerkschaft Deutschland, den Schacht Ulenberg abzuteufen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren vermerkt der Amtmann: „Kein Mangel an Arbeit“. Sein Bericht vom Juli 1890 ist optimistisch: „Seit der Eröffnung der neuerbauten Bahnstrecke Schee-Silschede hat sich der Verkehr und namentlich der Betrieb auf den hiesigen Steinkohlenzechen und Steinbrüchen sehr gehoben.

Besonders ist dies bei der Zeche Stock und Scherenberg, welche durch ein Anschlussgleis mit der genannten Bahnstrecke verbunden ist, der Fall. Die hier geförderten Kohlen und der nebenbei produzierte Coaks werden hauptsächlich in den naheliegenden rheinischen Industriestädten abgesetzt.“ Endlich hatte Haßlinghausen Anschluss gefunden an das Wirtschaftswachstum im deutschen Kaiserreich, dessen Industrie bald auch durch die starke Aufrüstung einen großen Bedarf an Steinkohle hatte. Anstelle der Haßlinghauser Hütte siedelte sich eine Glashütte an, die später zum größten Betrieb der Gemeinde werden sollte.

Schneller mit der Straßenbahn

Für den Personenverkehr spielte die Bahnlinie nie eine große Rolle: Die Straßenbahnen beförderten die Menschen aus Haßlinghausen ab 1906 schneller und ohne Umstieg nach Barmen. Immerhin verkehrten auf der Bahnlinie Schee-Silschede bis zu sieben Personenzugpaare täglich.

Mit dem Niedergang des Bergbaus 1925 begann auch für die Eisenbahn in Haßlinghausen der Abstieg. Die Glashütte und die nachfolgenden Industrien, z.B. die Isola auf dem Gelände der Zeche Deutschland konnten den Niedergang nur hinauszögern. Nun kehrte sich jedoch die Transportrichtung um: Das Gros der Transporte ging nicht mehr aus Haßlinghausen hinaus, sondern wurde als Antransport an die Haßlinghauser Betriebe geliefert. 1936 waren von werktäglich 400 t Güter 300 t Empfang und nur 100 t Versand.

War Haßlinghausen bis 1930 immerhin „Bahnhof vierter Klasse“, galt ab 1930 auf der Strecke der „„“vereinfachte Nebenbahnbetrieb„, was eine weitere Abwertung bedeutete. Nach dem zweiten Weltkrieg lebte der Personenverkehr noch einmal kurz auf. Es gab werktäglich zwei gemischt Zugpaare Silschede-Schee mit einer Fahrzeit von 30 bis 40 Minuten und zwei reine Personenzugpaare mit 17 Minuten Fahrzeit. Die Bemerkung auf dem Fahrplan von 1950: „Zug kann ohne Ankündigung 30 Minuten früher abfahren“ machte die Bahn zudem zu einem recht unzuverlässigen Verkehrsmittel.

Kündigung einen Monat vor dem 100. Geburtstag

Am 7. Oktober 1951 wurde der Personenverkehr endgültig eingestellt; es blieb der auf bescheidene Dimensionen abgesunkene Güterverkehr. 1963 Jahren legte die Bundesbahn den Abschnitt von Hiddinghausen bis Silschede still. Es war schließlich nur noch die Firma Kraft am Rennebaum, die einmal wöchentlich mit einem Güterzug angefahren wurde. Diese letzte Verbindung wurde zum 1. Oktober 1989 gekündigt; einen Monat später hätte die Bahn ihren 100. Geburtstag feiern können.

Was ist heute noch zu sehen von diesem Kapitel Industriezeitalter in Haßlinghausen? Der völlig heruntergekommene Bahnhof Haßlinghausen wurde 1978 zum Abriss freigegeben; nur der Bahnsteig ist heute noch zu erkennen. Der Bahnhof Hiddinghausen wurde zum Wohnhaus umgebaut und der Bahnhof Silschede mutierte zum Baumarkt. Die erhaltenen Brücken aus heimischem Sandstein allerdings wurden vom Kommunalverband Ruhrgebiet sorgfältig saniert und sind eine Augenweide.

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